Scham

Auf den mehrere tausend Seiten dicken Quelle-Katalog hatte meine Mutter ein besonderes Augenmerk. Zwar durften wir darin blättern und über die unglaublichen Dinge in der Rubrik „Spielwaren“ staunen, doch wollte sie uns davor bewahren, die zahlreich abgebildeten Frauen in Unterwäsche zu betrachten und dadurch möglicherweise unreine Gedanken zu entwickeln.
In unserem Nachbarort gab es eine Filiale des erwähnten Versandhauses. Wenn man dort seine Bestellung aufgab und sie selbst abholte, sparte man sich die Versandkosten. Auf diesem Wege kaufte ich mir eine Digitaluhr mit vier Funktionsknöpfen von meinem ersparten Geld und war mächtig stolz, wenn zu jeder vollen Stunde der Piepton erklang.
Eines Tages schickte mich meine Mutter in diese Geschäftsstelle, um eine Lieferung abzuholen. Nach 5 Minuten Radfahren stand ich am Ladentisch und erfuhr von der Verkäuferin: “Die Schlüpfer fehlen, sonst ist alles da.“ Ganz sicher war ich mir nicht, aber ich vermutete stark, dass es sich bei den genannten Schlüpfern wohl um eine Unterhose für Frauen handeln musste. Jetzt hatte ich ein Problem: Ich musste meiner Mutter Bericht erstatten, schämte mich aber, darüber zu sprechen. Also druckste ich herum, versuchte die peinliche Vokabel zu vermeiden und atmete erleichtert auf, als sie endlich verstand, worum es ging.

Zu Hause redeten wir nicht über Sexualität, in den Veranstaltungen der Gemeinde schon gar nicht. Sogar in unserer Schule gab es eine Sonderregel für die Mennonitenkinder: Am Sexualunterricht in Klasse 9 oder 10 mussten wir nicht verpflichtend teilnehmen. 
Ich war ein Spätentwickler und durch das Überspringen einer Klasse in der Grundschule ein Jahr jünger als meine Mitschüler*innen. Aber in der 11.Klasse war es dann soweit, der Sexualtrieb und das Interesse daran waren nicht mehr aufzuhalten. Nachmittags saß ich oft an meinem Schreibtisch und lernte für die Schule. Alles war ruhig im Haus und niemand hielt sich im Nebenzimmer auf – ich war alleine im Dachgeschoss. Leise schlich ich in die „Rumpelkammer“, nahm mein altes Biologiebuch zur Hand und saugte zum Thema Sexualität alles auf, was ich fand, besonders die Abbildungen faszinierten mich. Ein Lexikon ergänzte mit entsprechenden Artikeln mein Selbststudium der Sexualkunde. So reizvoll diese kleinen Ausflüge auch für mich waren, ich durfte auf keinen Fall dabei entdeckt werden, ich hätte mich in Grund und Boden geschämt.

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